Überraschung knapp verpasst

»Gegen Baden Baden sind wir ohnehin völlig chancenlos« hatte Bundesliga-Teamchef Herbert Scheidt im Vorfeld des Kampfes der Lokalpresse in die Notizblöcke diktiert und dabei kein Understatement betrieben, sondern die Aussichten eher realistisch eingeschätzt. Denn ausgerechnet beim Heimspielwochenende mit dem Prestigeduell gegen den deutschen Meister OSG Baden Baden gab es eine wahre Absagenflut zu verzeichnen, so dass buchstäblich das letzte Aufgebot am Samstag an die Bretter ging. Zwar fehlten dem Gästeteam von Teamchef Sven Noppes auch fünf der sechs Topleute, doch wenn man in einer derartigen Situation noch immer Ex-Fide-Weltmeister Rustam Kasimdzhanov (2678) am sechsten Brett aufbieten und den frisch gebackenen Teameuropameister Jan Gustafsson pausieren lassen kann, handelt es sich definitiv um ein Luxusproblem.

Dennoch war man im Solinger Lager am Abend etwas enttäuscht, denn nachdem Markus Schäfer in einer schönen Partie die Niederlage von Jörg Wegerle ausgeglichen hatte, gab es durchaus realistische Hoffnungen auf ein Unentschieden, doch letztlich konnte Erwin L`Ami sein Turmendspiel mit Minusbauern gegen Arkadij Najditsch (2707) nicht halten, so dass am Ende eine knappe 3½: 4½-Niederlage hingenommen werden musste.

In Anbetracht der deutlichen nominellen Unterlegenheit griff unser Oktett zunächst zu der Taktik, die auch das deutsche Team bei seinem Sensationserfolg im Rahmen der Mannschafts-Europameisterschaft vereinzelt angewandt hatte. Zunächst einmal wurden ein paar Weiß-Partien »abgeklammert«, um die Zahl der verbleibenden Begegnungen zu reduzieren und den Druck auf die Favoriten zu verstärken. So ließ Alexander Naumann gegen den hochgelobten Theorietrainer unserer Nationalmannschaft, Rustam Kasimdzhanov (2678) in einem g3-Grünfeld-Inder keine großen Zweifel daran aufkommen, dass sein früherer Teamkollege nur einen halben Punkt erzielen würde. Nach 26 Zügen war bis auf jeweils einen Turm und vier Königsflügelbauern alles abgetauscht und das Remis unterschriftsreif. Etwas länger dauerte die Begegnung zwischen Predrag Nikolic und dem inzwischen für Armenien spielenden Sergej Movsesian (2715), in der in einem Chebanenko-Slaven aber ebenfalls niemals ernsthaft das Gleichgewicht gestört wurde, bevor die Partie in einem totremisen Läuferendspiel mündete. Ebenfalls absolut im Plan war das Remis von Artur Jussupow, der die leichte Weiß-Initiative von Peter Heine Nielsen (2687) in einem geschlossenen Katalanen durch sehr präzises Spiel neutralisierte.

Folglich ging es mit einem Zwischenstand von 1½: 1½ in die Zeitnotphase, in der sich vor allem an den hinteren Brettern die ersten Entscheidungen anbahnten. Jörg Wegerle hatte die unangenehme Aufgabe, den stets kreativen Liviu-Dieter Nisipeanu (2638) mit Schwarz zu neutralisieren. Jörg versuchte es mit einer Nebenvariante im angenommenen Damengambit, konnte aber keinen vollständigen Ausgleich erreichen und musste auch im vereinfachten Mittelspiel mit zwei Türmen und seinem Springer gegen den weißen Läufer stets neue Probleme lösen, die auch auf seinem höchst unglücklich auf a7 gestrandeten Turm basierten. In der Zeitnot nutzte der erfahrenen Rumäne mit deutschen Wurzeln seine Chancen und die Partie war selbst für den zähen Jörg nicht zu halten. Doch mit umso größerer Freude registrierten die Solinger Zuschauer die Ereignisse am Nebenbrett, wo Liga-Präsident Markus Schäfer aufgrund der gewaltigen Personalnot ein Bundesliga-Comeback am Brett feierte und bei seiner ersten Ligapartie seit 2007 gegen Philipp Schlosser (2591) einen Glanztag erwischte. Der badische Großmeister konnte in einem seltenen Abspiel des Grivas-Sizilianers mit 4…Db6 nicht völlig ausgleichen und spätestens nach 28… b6 wusste Markus, dass ein voller Zähler drin war. In der Folge agierte er sowohl in der Zeitnotphase als auch in der späteren technischen Verwertung so souverän, dass er nicht nur den umjubelten Ausgleich erzielen konnte, sondern Sven Noppes sogar zu der Frage veranlasste, ob Philipps Markenzeichen, sein markanter Hut, nun ausgedient habe…

Beim Blick auf die verbleibenden drei Partien machte sich nun erstmals Hoffnung auf einen Teilerfolg breit, denn auch wenn der Meister in allen Begegnungen am Drücker war, so erschienen drei Remisen ebenfalls nicht völlig unrealistisch. Den ersten Schritt in Richtung Überraschung schaffte Markus Ragger, der sich am Spitzenbrett gegen das von Michael Adams (2733) gewählte Short-System in einer Vorstoß-Caro-Kann-Variante sehr umsichtig verteidigte und dem begnadeten britischen Positionsspieler auch im späteren Läuferendspiel keine Einbruchsmöglichkeiten eröffnete, so dass dieser nach 55 Zügen in die Punkteteilung einwilligte. Nun hing alles von unserer diesmal auf ein Duo reduzierten holländischen Fraktion in Person von Daniel Stellwagen und Erwin L’Ami ab, die gegen das »Chess Evolution«-Team Etienne Bacrot (2705) und Arkadij Najditsch (2707) um Remisen kämpfte. Daniel hatte mit Weiß in einem Chebanenko-Slaven frühzeitig ein spekulatives Figurenopfer gebracht, für das er drei Bauern erhielt, während Erwin mit Schwarz in einer Nebenvariante des geschlossenen Spaniers sehr gutes Spiel erhalten hatte.

Leider war ihm dann in der Zeitnotphase ein Bauer abhanden kommen und unser Nationalmannschafts-Spitzenbrett konnte zudem in ein Turmendspiel mit einem Mehrbauern auf der b-Linie abwickeln. Zwar war die technische Verwertung wahrlich nicht einfach, doch letztlich konnte Arkadij leider die These, dass alle Turmendspiele Remis seien, widerlegen und entscheidend in die schwarze Stellung eindringen, so dass er in ein theoretisch gewonnenes Endspiel mit Turm und g-Bauer gegen Turm abwickeln und den Siegtreffer für den Serienmeister erzielen konnte.

Da war es nur ein kleiner Trost, dass Daniel sein ebenfalls schwieriges Endspiel gegen die aktiven schwarzen Turm und Läufer mit einem verbleibenden Turm und Bauern Remis halten konnte. Unsere Mannschaft hat sich trotz der 3½: 4½-Niederlage teuer verkauft und der Stotterstart in die Saison von Baden Baden dauert auch am zweiten Wochenende fort, aber wahrscheinlich sind diese Arbeitssiege das beste Indiz dafür, dass die Grenke-Mannschaft am Ende wieder ganz oben stehen wird.

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